Erfolgsgeschichten 2020

Eine «Stehauffrau» Aray kommt aus Manaus, im brasilianischen Bundesstaat Amazonas. Rund 76 % der Bevölkerung von Amazonas wurden durch Covid-19 infiziert, und Amazonas gilt als der am stärksten betroffene Corona-Hotspot der Welt. Die medizinische Versorgung fiel zeitweise komplett aus. Aray hat so viele schwere Rückschläge erlebt in ihrem Leben, dass es genug Stoff für eine Krimiserie geben würde. Die heute 45 jährige erzählt:

«Als ich 17 Jahre alt war, hat mich meine Schwester zu sich in die Schweiz eingeladen. Es war ein wunderschöner Urlaub und ich habe es genossen. Zurück in Brasilien, fragte sie mich, ob ich nicht für länger in die Schweiz kommen wolle, sie könne mir einen Arbeitsvertrag vermitteln. Ich sagte sofort zu und freute mich sehr.

Als ich in der Schweiz ankam, wohnte ich in einer anderen Stadt als meine Schwester, und es stellte sich heraus, dass mein Arbeitsvertrag als Stripteasetänzerin war. Ich komme aus einer streng gläubigen Familie, und die Vorstellung allein war mir sehr peinlich. Ich wehrte mich, doch meine Arbeitgeber verlangten, dass ich die hohen Schulden für meinen Flug etc. abverdienen müsse, da sie sonst die Polizei holen würden.

Aus lauter Angst sah ich keinen anderen Ausweg und tanzte, wie sie es wünschten. Doch sie waren nie zufrieden, da ich es nicht gut konnte und immer weinen musste. Eines Abends weinte ich so fest, dass ein Kunde mich fragte, warum ich weine. Ich erzählte ihm alles und er half mir zu flüchten. Ich erinnerte mich noch in welcher Stadt meine Schwester wohnte und ich fand den Ort wieder. Ich war so froh und freute mich schon auf meine Reise zurück in meine Heimat, ich dachte, sie würde mir sicher helfen.

Doch als ich bei ihr ankam, stellte ich fest, dass sie in einem Bordell arbeitet und sie von Anfang gewusst hatte, was das für Leute sind. Sie sagte mir: «Wenn du nach Hause willst, dann musst du dir das Geld hier im Bordell selbst verdienen, dass muss ich auch.» Ich war völlig geschockt und traurig. Ich rannte weg, wusste nicht wohin und schlief auf der Strasse. Allein und ohne Hoffnung. Ein Passant bot mir an, dass ich bei ihm schlafen könne, ich müsse einfach mit Sex bezahlen. Völlig verzweifelt liess ich mich darauf ein. Ich war sehr traurig und wollte nur zurück nach Brasilien. So lebte ich einige Zeit und ich fand einen Job. Ich lernte einen netten Mann aus der Nachbarschaft kennen und verliebte mich. Wir wurden ein Paar. Doch nach kurzer Zeit merkte ich, dass er eine andere Frau hatte. Es war der Tiefpunkt. Ich begann Schlaftabletten zu nehmen. Ich konnte nicht mehr arbeiten und bat meine Schwester erneut um Hilfe, doch ihre Antwort war immer noch die gleiche. Ich landete wieder auf der Strasse. Dieses Mal half mir eine liebe Frau. Sie rief das Projekt Resgate an. Plötzlich gab es jemand der mir wirklich bei der Rückreise in mein Land helfen wollte, ohne Konditionen, einfach so, weil ich Hilfe brauchte.

Das Gröbste geschafft?

Meine Mutter war in der Zwischenzeit leider sehr krank geworden, sie hatte einen Schlaganfall und litt an Demenz. Mein Vater war sehr verbittert über vieles. Seine Antwort auf mein Erlebtes hat mich tief verletzt und bis heute eine Narbe in meiner Seele hinterlassen. Er sagte: «Nicht mal als Prostituierte in der Schweiz taugst du etwas.» Ich hatte keinen Beruf gelernt und wusste nicht, wie ich Geld verdienen könnte. Durch Projekt Resgate hatte ich jedoch gemerkt, dass ich eine grosse Leidenschaft und Talent fürs Kochen hatte.

Projekt Resgate hat mir einen Marktstand finanziert, und so fing ich an, selbstgemachte Kuchen, Cupcakes und weitere Süssgebäcke zu verkaufen. Es lief gut und ich konnte viel verkaufen und davon leben. Ich hatte genug Zeit, nebenher meine Mutter zu pflegen. Bald konnte ich bei einem Onkel einen Raum gratis benutzen und dort meine Süssgebäcke verkaufen. Doch dann erkrankte ich. Die Ärzte stellten Diabetes fest. Es war schwierig und teuer, an die richtigen Medikamente zu kommen in unserer Stadt. Mit meinem Ersparten kaufte ich ein teures Insulinmessgerät. Eines Tages beraubte mich eine Gang in meinem kleinen Laden, sie hatten alles mitgenommen und es war nun gefährlich für mich in dieser Gegend. Ich wusste leider wegziehen und wagte einen Neustart an einem neuen Ort. Doch die Pechsträhne blieb: der Sohn des Besitzers meines neuen Lokals wurde von einer Gang geköpft. Der Besitzer verliess sein Haus und zog hals überkopf weg und ich war wieder auf der Strasse. Ich rief meinen Bruder an und ich durfte zu ihm und seiner Frau ziehen. Seine Frau und ich wurden schnell gute Freundinnen, ich begann wieder Süssgebäck zu verkaufen und konnte so etwas zum Haushaltsbudget beitragen. Dann kam 2020 und unsere Stadt wurde von der Covid-Welle überrrollt. Wir erkrankten alle drei an Covid-19, ich und mein Bruder überlebten, seine Frau starb. Zudem wurde meine Diabetes sehr viel schlimmer und das Gesundheitssystem im Manaus ist zusammengebrochen.

Meinee grosse Zehe begann sich zu verfärben. Ich war völlig am Ende meiner Kräfte, und durch den Lockdown waren wir eingesperrt und ohne das Nötigste zum Leben. Ich sah keinen Ausweg mehr und schluckte Rattengift. Ich überlebte, und mein Bruder bat Projekt Resgate um Hilfe. Sie riefen mich an, redeten und beten mit mir, halfen uns mit Lebensmitteln. Langsam sehe ich wieder ein bisschen Hoffnung. Es geht mir gesundheitlich immer noch schlecht, und der anhaltende Lockdown, die vielen Toten und Kranken machen mich traurig. Ich habe Angst, dass mein Fuss amputiert werden muss. Aber ich habe wieder Zuversicht, dass bald ein besseres Kapitel starten möge. Und es tut gut zu wissen, dass ein paar Leute weit weg an mich denken und an mich glauben und es ist mir eine Ehre, hier meine Geschichte erzählen zu dürfen.»

Gerne würden wir hier ein Happy End schreiben. Doch wir haben grosse Hoffnung, dass das Happy End für Aray noch kommt. Sie hat sich selbst und uns schon mehrfach gezeigt, dass sie sich trotz vieler Schicksalsschläge immer wieder aufgerafft. Dass wir sie dabei unterstützen und weiterhin an sie glauben, ist der Teil, den wir dazu beitragen können, damit sie weiterhin ihre Kraft behält.

* Name geändert