Die Mission: Opfer des Menschenhandels befreien

Liliana Tinoco-Baeckert

15. Februar, 2019, 09:30 Uhr

Im Rahmen der Berichtsreihe von Swissinfo.ch über den Menschenhandel in der Schweiz wurde Vicente Medeiros, der das Project Rescue (früher Projekt Resgate) in Zürich leitet, im Jahr 2019 interviewt.

Vicente Medeiros und sein Arbeitspartner in Brasilien, Marco Aurélio de Souza, beschäftigen sich täglich mit unvorstellbaren Fällen von Menschenhandel und sehen sich oft konfrontiert mit schrecklichen Schicksalen.

Das Project Rescue ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Zürich, der in Europa Opfern von Menschenhandel Zuflucht anbietet und sie nach Brasilien zurückführt. Der Verein integriert die Opfer wieder in der Gesellschaft, indem er sie psychologisch, medizinisch und juristisch betreut und ihnen zu Weiterbildungskursen verhilft.
Vicente Medeiros ist der Gründer und Leiter dieses Dienstes. Er sucht Sponsoren und arbeitet mit dem brasilianischen Konsulat sowie mit einer Reihe von staatlichen Stellen und Nonprofitorganisationen gegen Menschenhandel zusammen.

Marco Aurélio de Souza betreut das Reintegrations-Programm in Brasilien, empfängt die Opfer und koordiniert die Hilfe.
Um über den Menschenhandel in der Schweiz zu sprechen, empfing Vicente Medeiros Swissinfo.ch in seinem Büro in Zürich. Marco Aurélio de Souza wurde per Telefon aus Goiânia zugeschaltet. Die Berichte der beiden Projektleiter zeugen von unbeschreiblichen Schicksalen.

Artikel aus dem Blog “Die Schweiz mit offenen Türen” Externer Link der Journalistin Liliana Tinoco Baeckert.

Vicente Medeiros: “… Die irregeführten Mädchen in der Seifenoper ‘Salve Jorge‘ von Rede Globo, zeigen nur einen Teil der Realitäten der Unterwelt …”
(swissinfo.ch)

swissinfo.ch: Wie begannen Sie mit dem Projekt Resgate (heute Project Rescue) hier in der Schweiz?

Vicente Medeiros (VM): Es war 2004, als meine Frau und ich, anlässlich einer Reise zur Feier unserer silbernen Hochzeit, in die Schweiz kamen. Als Pastor einer Baptistenkirche bin ich es gewohnt, wenn Leute zu mir kommen, um über ihr Leben und ihre Probleme zu sprechen.

In der Schweiz wurden wir unerwartet mit Berichten von Sklavenarbeit und Misshandlungen konfrontiert. Besonders erschütterte mich die Situation einer Frau, die gezwungen wurde, den Kot ihres Mannes zu essen, um ihn sexuell zu erregen. Diese Situation beschäftigte mich so sehr, dass ich, kaum nach Brasilien zurückgekehrt, einen Monat später wieder in die Schweiz reiste, um das Gehörte weiter zu verfolgen. Ich richtete mich in einem kleinen Raum in der Stadt Zürich ein, der zu einem Schönheitssalon gehörte. In der Folge erzählten mir mehr als 60 brasilianische Prostituierte ihre Erfahrungen. Es war immer wieder dieselbe Geschichte: Sie kamen mit dem Versprechen für eine Arbeitsstelle, aber das Ende war dann die Arbeit als Prostituierte.

Aufgrund dessen was sie mir erzählten, erfasste ich ihre Situation und ihre Bedürfnisse und entwarf dann ein Projekt mit klarer Definition der Problemstellung sowie konkreten Lösungsansätzen.
Wir begannen mit dem Projekt im Jahr 2005.

swissinfo.ch: Wie sieht das Profil dieser in der Schweiz versklavten Menschen aus?

VM: Aus den Interviews lernte ich, dass die meisten Opfer in der Schweiz Frauen sind, die aus den Bundesstaaten Goiás, Pernambuco und Ceará stammten, mehrheitlich aus Goiás. Später fand ich heraus, dass Menschenhändler sie bevorzugten, weil sie fügsamer und unterwürfiger waren, was die Ausbeutung erleichterte.

Es sind in der Regel junge Frauen im Alter von 28 bis 38 Jahren. Die meisten sind sehr arm, kaum gebildet, einige sogar Analphabeten.

swissinfo.ch: Seit fast 12 Jahren aktiv in diesem Projekt, da müssen Sie sehr traurige Berichte gehört und miterlebt haben.

VM: Inzwischen hat sich eine Sammlung von schrecklichen, manchmal unglaublichen Geschichten, angehäuft. Da gibt es tragische Fälle von Ausbeutung, Missbrauch, Sklaverei und Gewalt. Es ist kaum zu fassen, wie abgrundtief boshaft Menschen sein können. Eines Tages erzählte ein 18-jähriges Mädchen aus Recife, als sie zum Projekt kam, dass sie von ihrem Vater für 300 Reais an einen Italiener verkauft worden sei. Als sie in Europa ankam, musste sie sich prostituieren. Aber es sind nicht nur junge Mädchen, die böswilligen Menschen aufsitzen. Auch eine 64-jährige Dame wurde von uns in Sicherheit gebracht. Sie kam in die Schweiz, weil sie eine Strickmaschine kaufen wollte.

Da sie kein Geld hatte, liess sie sich auf das Angebot ein, für 1000 Franken im Monat als Kindermädchen zu arbeiten – was fast 4000 Reais entspricht. Sie hatte in einem kalten Keller zu leben und arbeitete von 5 Uhr morgens bis 23 Uhr abends. Sogar das Brot, das sie ass, musste sie bezahlen. Die Familie erfasste in einem kleinen Notizbuch alles, was die Frau konsumierte und sie musste es überteuert bezahlen, wie es in solchen Fällen von Sklaverei üblich ist. Diese Frau wurde krank und konnte nicht mehr richtig atmen. In diesem Zustand setzte man sie an der Eingangstür des brasilianischen Konsulats in Zürich ab. Sie wusste nicht, wo die „Gast“-Familie lebte.

Somit konnte auch keine Beschwerde oder Anzeige eingereicht werden. Sie wurde von uns nach Brasilien zurückgebracht, starb aber später an Lungenkrebs.

Einmal unterstützten wir eine Frau, die in Bern in Verzweiflung aus dem dritten Stock von einem vom Balkon sprang.

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Wir hatten den Fall eines jungen Mannes, dem man versprach an einer Schule als Capoeira-Lehrer arbeiten zu können (Capoeira ist ein afro-brasilianischer Kampfsport mit Tanzelementen).
Die Realität sah anders aus. Er musste für sein Einkommen als Strassenkünstler auftreten – und verhungerte beinahe. Als er es kaum mehr aushielt fragte ihn der Chef, ob er 200 Franken verdienen möchte. Dies ist normalerweise die Strategie.

Sie lassen die Menschen aushungern bis sie ihre Würde verlieren und offerieren dann eine Lösung: Um dieses Geld zu verdienen, müsse er sich prostituieren. Der junge Mann rannte davon und rief laut auf Portugiesisch um Hilfe. Es war sein Glück, dass in diesem Moment ein Schweizer vorbeikam, der ihn verstand. Dieser brachte den Capoeirista zum brasilianischen Konsulat.

Marco Aurélio (MA): Ich habe hier in Goiânia eine junge Carioca (von Rio de Janeiro stammend) mit ihrer sechsjährigen Tochter empfangen, die in Zürich in einem Privatgefängnis eingesperrt war. Die junge Frau hatte Angst vor Männern. Als wir sie am Flughafen abholten, wollte sie zuerst nicht in unsere Nähe kommen.

Sie erzählte dann, dass sie vor einiger Zeit einen Mann am Strand in Rio getroffen hatte, der sie überzeugte, mit ihm in die Schweiz zu gehen. Als sie ankamen, verschloss er ihren Koffer in einem Raum, verriegelte das Haus und hinderten sie am Verlassen. Eines Tages schaffte sie es, mit dem Töchterchen durch ein Fenster zu fliehen.

swissinfo.ch: Für diese Art von Verbrechen ist es, meiner Meinung nach, sehr schwierig, den Täter zu identifizieren. Wie sollte man vorgehen? Wie kann die Bevölkerung helfen und wie kann man das verhindern?

MA: Ich befürchte, dass sich mit der Wirtschaftskrise in Brasilien die Situation tendenziell verschlechtern wird. Stellen Sie sich eine Kellnerin vor, die ungefähr 900 Reais verdient. Dann erhält diese Person ein Angebot in der Schweiz dreitausend Reais für dieselbe Arbeit zu verdienen. Wer würde in dieser Situation nicht gehen?

Der Menschenhändler spielt mit den Träumen von bescheidenen Menschen. Und sie wissen, dass diese Leute verwundbar sind, weil sie nichts haben, an dem sie sich festhalten können.

VM: Dieser Typ Menschenhändler kann verdeckt in verschiedenen Situationen auftreten. Die betrogenen Mädchen in der Seifenoper ‘Salve Jorge’ von Rede Globo, spiegeln nur einen Teil der Realitäten dieser Unterwelt. Die anderen, weniger offensichtlichen Formen, sind aber nicht weniger grausam.

Nicht immer verlieren die Personen ihren Pass oder müssen sich prostituieren. Die blosse Tatsache, in der Schweiz zu sein, die Sprache nicht zu sprechen und sich einer, nicht gemeinsam vereinbarten, Situation unterwerfen zu müssen, kann bedeuten, dass die Person zum Opfer wird und ein Straftatbestand vorliegt. Das kann sogar als Ehepartnerin passieren. Es gibt Menschen, die in einem Haus gefangen sind, also Frauen die ins Land kommen, um zu heiraten, dann aber feststellen, dass sie die Sklavin ihres Ehemannes geworden sind.

Dazu gehört auch die bekannte Geschichte über den Freund der Freundin der in der Schweiz lebt und einen Babysitter braucht. Ein Lohn von 3.000 Reais pro Monat kann sehr gefährlich sein!
Der Kampf gegen den Menschenhandel ist wie Wasser ins Meer tragen. Aber einige Dinge können präventiv trotzdem getan werden. Dabei gilt für gefährdete Personen:
• Seien sie nicht naiv.
• Wenn die Geschenke und Almosen zu gut erscheinen, schöpfen sie Verdacht gegenüber dem grosszügigen «Freund».
• Es ist wichtig, keinem Angebot zu trauen, auch wenn es von einem Bekannten stammt.
• Wenn möglich überprüfen Sie das Arbeitsangebot.
• Nehmen sie immer die Adresse des Konsulats mit.
• Lassen sie sich ihren Pass von niemandem abnehmen.
Den einzigen Weg, den wir haben, ist mit vollem Bewusstsein zu handeln.

Übersetzung: Lucia Ramsers, E. Gull, J. Geilinger